Sächsische Zeitung
Donnerstag, 11. Januar 2007
Theater hilft gegen Depression
Von Silvia Stengel
Bühne.
Arbeitslose spielen sich selber in Görlitz. Ihr Stück „Hartzreise“ wird
von der Agentur für Arbeit gefördert. Morgen ist Premiere im „Apollo“.
Wieder eine Absage. Die Frau sinkt im Stuhl zusammen. „Ach Lumpi, das ist doch alles Mist“, sagt sie zu dem Vogel im Käfig. „Ich bin wieder nicht gut genug.“ Henriette von Rädern spielt auf der Bühne in Görlitz, was sie selber unzählige Male erlebt hat. Die Diplom-Ingenieurin für Anlagenbau ist seit 1990 arbeitslos. Sogenannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Fortbildung, Umschulung, kurzfristige Beschäftigungen – dann saß sie wieder allein zu Hause. „Ich wollte raus, ich wollte was tun“, sagt die 51-Jährige. Sie erfuhr, dass am Görlitzer Theater ein Stück mit Arbeitslosen entsteht und meldete sich an. Morgen ist die Premiere im „Apollo“.
Am Anfang Angst gehabt
„So, seid ihr fertig?“, fragt Regisseur Peter Hanslik kurz vor Beginn
der Probe. „Wir sind schon lange fertig“, ist aus dem Dunkeln zu hören.
Der übergroße Schrank mit den Akten steht bereit, und ein Tisch mit
Computer, an dem gleich eine junge Dame sitzt, die eine Frau aus der
Agentur für Arbeit spielt. Sie hat sogar einen Job für den Mann – als
Hausmeister. Aber erst einmal soll er zur Probe arbeiten, Malerarbeiten
erledigen, wie ihm der Unternehmer sagt. Klar, macht er das. Vor Ort
heißt es dann, er soll den Schuppen abreißen. Das tut er natürlich. Nach
der Probezeit ist er aber wieder draußen, wie schon sieben oder acht
Arbeitslose vor ihm. Von Festanstellung hält der Chef nichts. Schon
vorher ist klar, dass er die „armen Schlucker vom Arbeitsamt“ nicht über
die Probezeit hinaus beschäftigt. „Ein moderner Pirat“ wird er genannt.
Es sind Szenen, die berühren, die oft auch amüsieren. So kommt eine
Kontrolle vom Arbeitsamt. Der Behörde wurde zugetragen, dass der
Hartz-IV-Empfänger mit einer Frau zusammenwohnt. Der Mann beteuert, er
lebe allein. Die rot-reizende Unterwäsche und die Stöckelschuhe seien
von ihm. Er helfe seinem Kumpel bei einer Travestieshow. Das muss er
beweisen und die Frauenschuhe anziehen.
Die Szenen sind aus Erlebtem der Arbeitslosen entstanden, wenn auch
manches überzogen ist. „Sie haben ja Übergewicht“, stellt die Frau auf
dem Amt fest. „Ich frage mich, wie sie sich das leisten können. Das gibt
einen Abzug von 20 Euro.“ Die Beteiligten stellen sich aber nicht nur
als Opfer dar. Einer liegt zu Hause auf dem Sofa, rundherum herrscht
Unordnung. Seine Frau kommt herein und tobt. Sie geht arbeiten und
kümmert sich um die Kinder. Und er? „Weißt du was, mir steht’s bis
hier“, schimpft sie. „Ich lass mich scheiden.“
Zwischen 24 und 51 Jahren sind die Spieler. „Ich war am Anfang sehr
blockiert“, sagt Henriette von Rädern. „Ich habe Angst gehabt, mich vor
der Gruppe zu präsentieren.“ Seit Juni treffen sie sich regelmäßig im
„Apollo“, der kleinen Spielstätte des Görlitzer Theaters.
Theaterpädagoge Ulrich Krause brachte am Anfang Luftballons mit. „Wir
haben gespielt wie kleine Kinder – damit wir uns kennenlernen“, sagt
Henriette von Rädern. Und nun: „Uli hat es wirklich geschafft, dass wir
aus uns rausgehen.“
Komische Blicke
„Wie fange ich ein schweres Thema ganz leicht an?“, hatte sich der
Theaterpädagoge gefragt und war so auf die Luftballons und
Bewegungsübungen gekommen. Henriette von Rädern erinnert sich: „Alle
haben komisch geguckt, auch die Frau vom Arbeitsamt.“ Die Agentur für
Arbeit unterstützt das Projekt mit 18 Arbeitslosen. Alle Mitwirkenden
und die Techniker werden als Ein-Euro-Jobber bezahlt. Vielleicht war die
Agentur für Arbeit anfangs noch ein bisschen skeptisch, sagt Ulrich
Krause. Das sei ja auch für sie neu gewesen.
Regisseur Hanslik ist später eingestiegen und begeistert. „Sie sind
sehr, sehr engagiert.“ Um zehn gehe es los, die ersten kämen früh um
acht. Der Grundstein für das Projekt wurde schon viel früher gelegt,
2005 bei einer Demonstration zum Opernball. Intendant Michel Wieler
hatte die Arbeitslosen kurz darauf ins Theater eingeladen. Sie
erzählten, wie sie sich fühlen und was sie erlebten. Wieler schrieb
einige Szenen, gab das Projekt dann aber in die Hände von Ulrich Krause
und Peter Hanslik.
Stolz, dabei zu sein
Holger Kittelmann, der jetzt auch mitspielt, war von Anfang an dabei.
„Bloß hinter dem Fernseher zu hocken, bloß zu meckern auf die Region,
das bringt ja auch nichts“, sagt der 39-Jährige. Sein letzter Job endete
im Februar 2002. Dann fühlte er sich wieder wie auf einem Abstellgleis:
„Ich hatte schon sehr mit Depressionen zu kämpfen“, sagt er. „Ich habe
auch welche gehabt“, sagt Henriette von Rädern. Ihre Tochter sei groß,
habe ihre eigene Familie. So allein zu Hause kommt sie sich wertlos vor.
Nun könne sie ausdrücken, wie sie sich fühle. „Ich bin stolz, dabei zu
sein.“
„Hartzreise – zieht euch warm an“, heißt das Stück. Es gibt eine
Dokumentation, an der die Spieler mit schreiben. Unter dem letzten Punkt
steht: „Premiere oder Muffen- und Fracksausen“. Ende Februar endet das
Projekt – „traurig“ für Henriette von Rädern. Sechs Leute hätten sich
schon ausgemacht, eine private Theatergruppe zu gründen, sagt die
51-Jährige. Holger Kittelmann ist nicht dabei: „Ich brauche wieder was
Handfestes“, sagt er. Einen Job. Demnächst hat er einen
Vorstellungstermin. „Ich bin schon ganz fitzig.“