15. Januar 2007, 18:20

Ankündigung SZ

Sächsische Zeitung
Donnerstag, 11. Januar 2007

Theater hilft gegen Depression

Von Silvia Stengel
Bühne.
Arbeitslose spielen sich selber in Görlitz. Ihr Stück „Hartzreise“ wird von der Agentur für Arbeit gefördert. Morgen ist Premiere im „Apollo“.

Wieder eine Absage. Die Frau sinkt im Stuhl zusammen. „Ach Lumpi, das ist doch alles Mist“, sagt sie zu dem Vogel im Käfig. „Ich bin wieder nicht gut genug.“ Henriette von Rädern spielt auf der Bühne in Görlitz, was sie selber unzählige Male erlebt hat. Die Diplom-Ingenieurin für Anlagenbau ist seit 1990 arbeitslos. Sogenannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Fortbildung, Umschulung, kurzfristige Beschäftigungen – dann saß sie wieder allein zu Hause. „Ich wollte raus, ich wollte was tun“, sagt die 51-Jährige. Sie erfuhr, dass am Görlitzer Theater ein Stück mit Arbeitslosen entsteht und meldete sich an. Morgen ist die Premiere im „Apollo“.

Am Anfang Angst gehabt

„So, seid ihr fertig?“, fragt Regisseur Peter Hanslik kurz vor Beginn der Probe. „Wir sind schon lange fertig“, ist aus dem Dunkeln zu hören. Der übergroße Schrank mit den Akten steht bereit, und ein Tisch mit Computer, an dem gleich eine junge Dame sitzt, die eine Frau aus der Agentur für Arbeit spielt. Sie hat sogar einen Job für den Mann – als Hausmeister. Aber erst einmal soll er zur Probe arbeiten, Malerarbeiten erledigen, wie ihm der Unternehmer sagt. Klar, macht er das. Vor Ort heißt es dann, er soll den Schuppen abreißen. Das tut er natürlich. Nach der Probezeit ist er aber wieder draußen, wie schon sieben oder acht Arbeitslose vor ihm. Von Festanstellung hält der Chef nichts. Schon vorher ist klar, dass er die „armen Schlucker vom Arbeitsamt“ nicht über die Probezeit hinaus beschäftigt. „Ein moderner Pirat“ wird er genannt.
Es sind Szenen, die berühren, die oft auch amüsieren. So kommt eine Kontrolle vom Arbeitsamt. Der Behörde wurde zugetragen, dass der Hartz-IV-Empfänger mit einer Frau zusammenwohnt. Der Mann beteuert, er lebe allein. Die rot-reizende Unterwäsche und die Stöckelschuhe seien von ihm. Er helfe seinem Kumpel bei einer Travestieshow. Das muss er beweisen und die Frauenschuhe anziehen.
Die Szenen sind aus Erlebtem der Arbeitslosen entstanden, wenn auch manches überzogen ist. „Sie haben ja Übergewicht“, stellt die Frau auf dem Amt fest. „Ich frage mich, wie sie sich das leisten können. Das gibt einen Abzug von 20 Euro.“ Die Beteiligten stellen sich aber nicht nur als Opfer dar. Einer liegt zu Hause auf dem Sofa, rundherum herrscht Unordnung. Seine Frau kommt herein und tobt. Sie geht arbeiten und kümmert sich um die Kinder. Und er? „Weißt du was, mir steht’s bis hier“, schimpft sie. „Ich lass mich scheiden.“
Zwischen 24 und 51 Jahren sind die Spieler. „Ich war am Anfang sehr blockiert“, sagt Henriette von Rädern. „Ich habe Angst gehabt, mich vor der Gruppe zu präsentieren.“ Seit Juni treffen sie sich regelmäßig im „Apollo“, der kleinen Spielstätte des Görlitzer Theaters. Theaterpädagoge Ulrich Krause brachte am Anfang Luftballons mit. „Wir haben gespielt wie kleine Kinder – damit wir uns kennenlernen“, sagt Henriette von Rädern. Und nun: „Uli hat es wirklich geschafft, dass wir aus uns rausgehen.“

Komische Blicke

„Wie fange ich ein schweres Thema ganz leicht an?“, hatte sich der Theaterpädagoge gefragt und war so auf die Luftballons und Bewegungsübungen gekommen. Henriette von Rädern erinnert sich: „Alle haben komisch geguckt, auch die Frau vom Arbeitsamt.“ Die Agentur für Arbeit unterstützt das Projekt mit 18 Arbeitslosen. Alle Mitwirkenden und die Techniker werden als Ein-Euro-Jobber bezahlt. Vielleicht war die Agentur für Arbeit anfangs noch ein bisschen skeptisch, sagt Ulrich Krause. Das sei ja auch für sie neu gewesen.
Regisseur Hanslik ist später eingestiegen und begeistert. „Sie sind sehr, sehr engagiert.“ Um zehn gehe es los, die ersten kämen früh um acht. Der Grundstein für das Projekt wurde schon viel früher gelegt, 2005 bei einer Demonstration zum Opernball. Intendant Michel Wieler hatte die Arbeitslosen kurz darauf ins Theater eingeladen. Sie erzählten, wie sie sich fühlen und was sie erlebten. Wieler schrieb einige Szenen, gab das Projekt dann aber in die Hände von Ulrich Krause und Peter Hanslik.

Stolz, dabei zu sein

Holger Kittelmann, der jetzt auch mitspielt, war von Anfang an dabei. „Bloß hinter dem Fernseher zu hocken, bloß zu meckern auf die Region, das bringt ja auch nichts“, sagt der 39-Jährige. Sein letzter Job endete im Februar 2002. Dann fühlte er sich wieder wie auf einem Abstellgleis: „Ich hatte schon sehr mit Depressionen zu kämpfen“, sagt er. „Ich habe auch welche gehabt“, sagt Henriette von Rädern. Ihre Tochter sei groß, habe ihre eigene Familie. So allein zu Hause kommt sie sich wertlos vor. Nun könne sie ausdrücken, wie sie sich fühle. „Ich bin stolz, dabei zu sein.“
„Hartzreise – zieht euch warm an“, heißt das Stück. Es gibt eine Dokumentation, an der die Spieler mit schreiben. Unter dem letzten Punkt steht: „Premiere oder Muffen- und Fracksausen“. Ende Februar endet das Projekt – „traurig“ für Henriette von Rädern. Sechs Leute hätten sich schon ausgemacht, eine private Theatergruppe zu gründen, sagt die 51-Jährige. Holger Kittelmann ist nicht dabei: „Ich brauche wieder was Handfestes“, sagt er. Einen Job. Demnächst hat er einen Vorstellungstermin. „Ich bin schon ganz fitzig.“

© ul.k 2020

Powered by Hugo & Kiss'Em.